Elisabeth Scharfenberg, Mitglied im Deutschen Bundestag

Mitglied im Deutschen Bundestag

Reform der Pflegeausbildung: Versorgung heute sichern und für morgen weiterentwickeln

Fraktionsbeschluss 15. März 2011

22.03.2011

In einer Gesellschaft, in der sich die Lebens- und Arbeitswelten verändern und das Alter einen längeren Lebensabschnitt bestimmt, stellen sich neue Herausforderungen auch für die Pflegeberufe. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes und des Bundesinstituts für Berufsbildung werden schon im Jahr 2025 etwa 150.000 zusätzliche Beschäftigte in den Pflegeberufen benötigt. Alte Menschen, Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderungen, Patientinnen und Patienten bringen den Wunsch nach einer selbstbestimmten Lebensführung und nach Mitbestimmung über die Art ihrer Pflege/Behandlung immer selbstbewusster zum Ausdruck. Pflege muss künftig mehr als heute die Ressourcen und Potenziale kranker und pflegebedürftiger Menschen fördern und somit zu deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beitragen. Diese Entwicklung, ebenso wie die Frage nach einer neuen Arbeitsteilung innerhalb der Heilberufe, insbesondere der zwischen Ärzteschaft und Pflege, stellen die berufliche Pflege vor große Aufgaben und vielfältige Chancen einer qualitativen Weiterentwicklung des Berufsbildes.

Wollen wir mehr Frauen und Männer für den Pflegeberuf gewinnen und dauerhaft binden, sind Zufriedenheit im Beruf, gesellschaftliche Anerkennung sowie Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten zentral. Die seit Jahren angemahnte Reform der Pflegeausbildung ist dabei ein Baustein. Ziel einer solchen Reform soll und muss es sein, die berufliche und rechtliche Eigenständigkeit durch klare Zuschreibung und Hervorhebung eigener Kernkompetenzen zu fördern und das berufliche Selbstbewusstsein zu stärken. Dafür müssen sich auch die beruflichen Rahmenbedingungen ändern - Pflege muss von den „typischen“ Merkmalen sogenannter Frauenberufe, wie schlechter Bezahlung, unflexiblen Arbeitszeiten, wenigen Mitbestimmungsrechten usw. abgekoppelt werden.


Die Notwendigkeit einer Reform der Ausbildung ergibt sich aus den folgenden Gründen:
· veränderte Bedarfe und Erwartungen der PatientInnen und Pflegebedürftigen
· Veränderung der Versorgungsanforderungen durch ein sich wandelndes Krankheitspanorama sowie durch den sozialen und demografischen Wandel
· Umsetzung neuester und pflegewissenschaftlicher –pädagogischer Erkenntnisse
· Steigende Anforderungen an das Qualitätsmanagement
· Bestehende Schnittmengen zwischen den drei Pflegeberufen
· Flexibilisierung des Arbeitsmarktes für Pflegekräfte
· Angleichung an die Ausbildungsstrukturen in der EU

Künftige Aufgaben und Anforderungen an Pflegekräfte
Wir Grünen verfolgen mit unserer Gesundheits- und Pflegepolitik eine sektorenübergreifende, interprofessionelle, regionale und wohnortnahe Versorgung, die sich an den individuellen Bedarfen und Bedürfnissen der Patientinnen und Pflegebedürftigen orientiert. Wir messen der Pflege auf dem Weg in eine solche Versorgungsstruktur eine große Bedeutung bei. Neue Aufgaben und Handlungsfelder der Pflege sehen wir u. a. in folgenden Bereichen:

· Interprofessionelle Teamarbeit,
· Steuerung von Versorgungsprozessen (z.B. Case-Management),
· Mitarbeit bei der Entwicklung innovativer Technologien und Assistenzsysteme,
· Weiterentwicklung von Qualitätsmanagement und neuen Versorgungskonzepten,
· Prävention, Gesundheitsförderung, Rehabilitation,
· Beratung, Schulung, Anleitung.

Neben diesen neuen Aufgaben und Handlungsfeldern wird aber auch eine neue Arbeitsteilung zwischen ÄrztInnen sowie Pflegekräften notwendig. Das beinhaltet bspw., dass bisherige ärztliche Tätigkeiten Pflegefachkräften eigenverantwortlich (was rechtliche Klarstellungen erfordert) zugeordnet werden, wie das in einigen Ländern Europas längst der Fall ist.


Reform ja- aber mit Bewusstsein für einen sensiblen Übergang
Versorgung, wie wir Grüne sie uns vorstellen erfordert ein grundlegendes Umdenken aller an der Versorgung beteiligten Akteure, das sich nicht von heute auf morgen einstellt. Überwiegend findet die pflegerische und gesundheitliche Versorgung heute noch in den traditionellen Versorgungsinstitutionen Altenheim, ambulante Pflege und Krankenhaus statt. Eine Reform der Pflegeausbildung, die diese Realität ignoriert, indem sie die Spezialisierung in diesen klassischen Feldern der Gesundheits- und Pflegeversorgung abschafft, wird Gefahr laufen -zumindest vorübergehend- Versorgungsdefizite und Qualitätseinbußen zu produzieren. Daher muss die Ausbildungsreform parallel zur Veränderung der Versorgungsbedarfe und -strukturen vollzogen werden. Sie muss vier grundlegende Anforderungen erfüllen:

1.) einerseits den heutigen Versorgungsanforderungen und den Bedarfen aller drei Zweige der Pflegeberufe Rechnung tragen,
2.) andererseits schon heute die Weichen für eine Versorgungslandschaft und für Versorgungsbedarfe von morgen stellen,
3.) ein Baustein zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs sein,
4.) für eine finanzielle Absicherung der Ausbildung sorgen.

Integratives gestuftes Ausbildungssystem
Ein integratives gestuftes System wird diesen Anforderungen am ehesten gerecht. In einem solchen System sollen die Ausbildungsinhalte, die den drei bestehenden Pflegeberufen gemein sind, zusammengeführt werden. Im ersten Ausbildungsabschnitt (1,5-2 Jahre) werden identische Ausbildungsinhalte unterrichtet. Im zweiten Teil (1-1,5 Jahre) spezialisieren sich die Auszubildenden in einem der drei Berufe, mit dem sie die Ausbildung abschließen. Diese Form der Ausbildung schafft die Basis für eine verbesserte Zusammenarbeit der Pflegeberufe. Die Einsatzfelder und Entwicklungsmöglichkeiten der Auszubildenden werden erweitert. Eine Nachqualifizierung in einem der anderen Pflegeberufe wird erleichtert. Durch die weiterbestehende Spezialisierung bleibt das heutige Niveau der Versorgungsqualität gesichert. Durchlässiges Aus-, Fort- und Weiterbildungssystem Wir wollen, dass allen der Weg offen steht, sich von der Pflegehilfs- oder Assistenzkraft über die Pflegefachkraft bis hin für zentrale Leitungspositionen oder für den akademischen Pflegebereich zu qualifizieren. Dafür brauchen wir ein durchlässiges und modular aufgebautes Qualifizierungssystem, in dem bereits geleistete Ausbildungsinhalte anerkannt werden. Der modulare Aufbau (u.a. der Pflegeausbildung) gewährleistet, dass die Aus- und Weiterbildung zeitnah an sich verändernde und neue Versorgungsbedarfe angepasst werden kann. Um eine konsequente Durchlässigkeit für alle Ebenen der Pflegeausbildung zu garantieren, bedarf es dringend der Harmonisierung der teils sehr unterschiedlichen länderspezifischen Regelungen für die Pflegehilfs- und Assistenzberufe.

Dem Anspruch der Durchlässigkeit wird das Konzept des Deutschen Bildungsrats für Pflegeberufe aus dem Jahr 2009, gerecht. Es entwirft ein Aus- und Weiterbildungssystem, das sich am Prinzip des lebenslangen Lernens orientiert. Dieses Konzept sieht die horizontale wie vertikale Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Ausbildungseinrichtungen und -abschlüssen vor. Es baut weitestgehend auf den bestehenden Ausbildungsstrukturen auf, vernetzt diese besser miteinander und eröffnet ein breites Spektrum an Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten auf jeder Ausbildungsebene. Es ermöglicht grundsätzlich Pflege entweder als Ausbildungsberuf zu erlernen oder als Studium zu absolvieren. Zweifellos braucht die Pflege mehr akademisch ausgebildete Expertinnen und Experten – ebenso wie zusätzliche Betreuungs- oder Assistenzpflegepersonen. Eine vollständige Akademisierung der Pflege sehen wir mit Blick auf den Bedarf in der Praxis jedoch skeptisch. Ein Mix aus verschiedenen Qualifizierungsniveaus wird in der Pflegepraxis an Bedeutung gewinnen. Denn dort wo Fähigkeiten, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten erweitert werden, muss auch die Möglichkeit bestehen, andere Aufgaben abgeben zu können.


Finanzierung der Ausbildung
Um alle Felder der Pflegausbildung gleichermaßen attraktiv zu machen, muss die Finanzierung der Ausbildung aller Pflegeberufe perspektivisch vereinheitlicht und solide finanziert werden. Zurzeit sind die Finanzierungsstrukturen der Ausbildung zur (Kinder)Gesundheits- und Krankenpflege (Poolfinanzierung aus Mitteln der Gesetzlichen Krankenversicherung) und der Altenpflege (Mischfinanzierung aus Mitteln der Leistungserbringer, Pflegeversicherung und Länder) noch extrem unterschiedlich. Kurzfristig sollten die bestehenden Finanzierungsstrukturen daher erhalten bleiben. Wir fordern, dass in absehbarer Zeit in jedem Bundesland schnellstmöglich eine Ausbildungsumlage für den Bereich der Altenpflege eingeführt wird. Durch sie werden auch die Einrichtungen und Dienste an den Kosten der Ausbildung beteiligt, die selbst nicht ausbilden, aber ebenfalls von qualifizierten Fachkräften profitieren. Die unterschiedliche Höhe der Ausbildungsvergütungen aber auch die unterschiedlichen Finanzierungsmodalitäten (z.B. Zahlung eines Schulgeldes) schrecken viele junge Menschen oft schon im Vorfeld von einer Altenpflegeausbildung ab. Auch deshalb ist eine einheitliche Ausbildungsfinanzierung sinnvoll und notwendig. Sie sollte sich an der erfolgreich praktizierten Poollösung bei der (Kinder) Gesundheits- und Krankenpflege orientieren. Wie diese Finanzierungsstruktur konkret aussehen kann und soll und welchen Anteil wer dabei zu tragen hat, muss mit allen, die heute an der Finanzierung der Ausbildung in den drei Pflegeberufen beteiligt sind, gemeinsam erarbeitet und ausgehandelt werden.

Nicht zuletzt muss endlich die Kostenübernahme für die dreijährige Umschulung bzw. Weiterbildung zur Pflegekraft dauerhaft geregelt werden. Ansonsten droht insbesondere der Altenpflegeausbildung ein empfindlicher Einbruch. Wir fordern daher, dass Umschulungskosten auch mittelfristig für die gesamte Ausbildungsdauer von der Bundesagentur für Arbeit übernommen werden. Langfristig jedoch sehen wir hier auch die Einrichtungen und Dienste sowie die Bundesländer in der Verantwortung, sich an diesen Kosten zu beteiligen.


Ausblick
Die von uns beschriebene und befürwortete Form der Aus- und Weiterbildung stellt eine geeignete Grundlage für den Übergang in ein anderes Versorgungssystem dar. Mit diesem Aus- und Weiterbildungsansatz können Pflegekräfte auf die Erfordernisse einer sektorenübergreifenden, interprofessionellen, regionalen und wohnortnahen Versorgung, die sich an den individuellen Bedarfen und Bedürfnissen der Patientinnen und Pflegebedürftigen orientiert, vorbereitet werden. Möglicherweise wird in einem so ausdifferenzierten und nutzerorientierten Versorgungssystem dann auch eine mehrjährige Basisqualifikation notwendig sein, die eine feingliedrigere Spezialisierung im Anschluss an die Basisausbildung erzwingt. Dann könnten und müssten die heutigen Spezialisierungen in den drei Pflegeberufen kleinteiligeren Spezialisierungen wie Case-Management, Demenzversorgung, Intensivpflege, familienorientierter Pflege oder Palliative Care weichen.

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