Elisabeth Scharfenberg, Mitglied im Deutschen Bundestag

Mitglied im Deutschen Bundestag

Wenig Mut und viele Fehler

Koalition verabschiedet Pflegereform

18.03.2008

Erinnert man sich an den schwarz-roten Koalitionsvertrag, so hätte man die Hoffnung hegen können,dass mit dieser Reform eine wirkliche Weiterentwicklung der Pflegeversicherung möglich ist. Ist dieserfüllt worden?

Nein, die Positionen von Union und SPD lagen zu weit auseinander, als dass ein mutiges Reformwerkam Ende des Prozesses hätte stehen können. Profilschärfung stand vor Bürgerorientierung. Am Endebleibt der kleinste gemeinsame Nenner übrig, denn die Partner der großen Koalition spielen auf Zeit undhoffen nach der nächsten Bundestagswahl auf veränderte Machtverhältnisse. Insgesamt werfen wir dergroßen Koalition zwei große Versäumnisse vor:

1. Sie hat weder eine nachhaltige noch eine gerechte Finanzreform zustande bekommen. 2. Die allermeisten der beschlossenen Leistungsverbesserungen sind nicht konsequent aus derPerspektive der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen gedacht und gehen damit an derenBedürfnissen vorbei.

Finanzreform: Mit Bausch und Bogen gescheitert

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD von 2005 ist die Rede von einem "Gesetz zur Sicherung einernachhaltigen und gerechten Finanzierung der Pflegeversicherung", das bis zum Sommer 2006 vorgelegtwerden solle. Von diesem Gesetz fehlt bis heute jede Spur. Das verabschiedete PfWG hat damitjedenfalls nichts zu tun. Denn es enthält weder den im Koalitionsvertrag versprochenen Finanzausgleichzwischen Sozialer und Privater Pflegeversicherung noch macht es die Pflegeversicherung auch nuransatzweise nachhaltiger oder gerechter. Da hilft es auch nichts, dass sich Union und SPD gegenseitigdie Schuld in die Schuhe schieben. Versagt haben beide und zwar auf ganzer Linie.

Das sogenannte Finanzierungskonzept der Bundesregierung besteht nunmehr darin, den Beitrag zurSozialen Pflegeversicherung (SPV) zum 1.7.2008 um 0,25% zu erhöhen. Außerdem wurde zum 1.1.2008noch der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung (von 4,2 auf 3,3%) gesenkt. Zum 1.7.2008 - parallel alsozur Beitragserhöhung - tritt die avisierte Rentenerhöhung in Kraft. Die Botschaft der Koalition lautet: "DasGanze kostet unter dem Strich nichts!" Mit Blick auf die enormen demografischen Herausforderungeneiner älter werdenden Gesellschaft und damit für nachkommende Generationen ist dies einverantwortungsloses Spiel, das auf Dauer für uns alle ein teures Unterfangen wird.

Die Finanzierung der beschlossenen Verbesserungen trägt maximal bis 2015, dann ist das Geld aus derBeitragserhöhung schon wieder verbraucht. Laut Meinung seriöser Ökonomen könnte dies sogar schon2012 der Fall sein. Klar ist, die Finanzierungsbasis ist extrem schmal kalkuliert. Die nächste Pflegereformist deshalb schon in Reichweite.

Strukturreformen: Gut gedacht, schlecht gemacht

Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass diese Reform durchaus sinnvolle Verbesserungen mit sich bringt.So begrüßen wir es ausdrücklich, dass Pflegeeinrichtungen künftig einmal pro Jahr unangemeldetkontrolliert und die Prüfberichte veröffentlicht werden sollen. Das sind gute und notwendige Schritte hinzu mehr Transparenz und Qualität für die Pflegebedürftigen.

Die Regierung preist insgesamt die im Gesetz verankerten Maßnahmen schon jetzt als großeErrungenschaften für die Verbesserung der pflegerischen Versorgung an. Bei genauerem Hinsehenentpuppen sich die meisten Errungenschaften jedoch eher als halbherzig.

So war das Herzstück der Reform von Beginn an der Aufbau der sog. "Pflegestützpunkte". Diesewohnortnahen Anlaufstellen sollten den Pflegebedürftigen wie auch deren Bezugspersonen bundesweitindividuelle Beratung, Begleitung und Aufklärung durch dort angesiedelte "Pflegeberater" bieten. DieBerater sollen u.a. Leistungsansprüche der Versicherten prüfen, Leistungen koordinieren und individuelleVersorgungspläne erstellen. Grundsätzlich ein sinnvoller und von uns unterstützter Ansatz.

Kritisiert haben wir jedoch immer, dass die Stützpunkte wie auch die Berater ursprünglich von denKranken- und Pflegekassen allein getragen und finanziert werden sollten. Unabhängige Beratung, diebesonders für kranke und pflegebedürftige Menschen wichtig ist, kann hierdurch nicht gewährleistetwerden. Man kann nicht eine vernetze und kooperative Versorgungsstruktur wollen, dann aber denKassen die alleinige Steuerungsmacht überlassen.

Auch der zuletzt gefundene Kompromiss zu den Pflegestützpunkten bietet für dieses Problem nur eineScheinlösung, für die man vor allem der im gesamten Verfahren sehr destruktiv agierenden Uniondanken darf. Die Entscheidung über die Errichtung von Pflegestützpunkten wird nunmehr bei denLändern liegen. Wenn ein Land Stützpunkte aufbauen will, haben die Kassen diese zu errichten und zufinanzieren. Eine Co-Finanzierung durch die Länder ist nicht vorgesehen. Bei den Pflegeberatern bleibtim Wesentlichen alles beim Alten. Unabhängig davon, ob es vor Ort Stützpunkt gibt oder nicht, haben dieVersicherten auf diese Leistung einen Anspruch. Sie ist und bleibt aber eine Leistung der Pflegekassen.

Die Länder stärker an den Stützpunkten zu beteiligen, ist richtig. Doch wieder ist die Umsetzung schlecht.Manche Länder werden Stützpunkte aufbauen, manche nicht, denn sie sind ja nicht dazu verpflichtet.Damit ist ein löchriger Flickenteppich zu befürchten - ähnlich wie beim Heimrecht, das im Zuge derFöderalismusreform an die Länder verhökert wurde. Obwohl also alle Versicherten mit ihren solidarischenBeiträgen die Stützpunkte finanzieren, ist der Zugang nicht für alle sichergestellt. Beratung undBegleitung in Stützpunkten hängt somit zukünftig vom Wohnort ab. Der Grundsatz "ambulant vorstationär" bleibt damit eine leere Worthülse.

Und bei den Pflegeberatern hat sich am Grundproblem gar nichts geändert. Sie sind auch weiterhin nichtunabhängig, auch wenn die Bundesregierung dies steif und fest behauptet. Denn Träger undausführendes Organ der Beratung bleiben weiterhin die Kassen. Selbst wenn diese wollten (was wir garnicht bezweifeln möchten), können sie strukturell keine Unabhängigkeit gewährleisten. Letztlich werdenhier im Zweifel die betriebswirtschaftlichen Interessen über die inhaltlichen Notwendigkeiten obsiegen.

Große Hoffnungen haben wir auch in die gesetzliche Pflegezeit gesteckt, die auch wir selbst fordern. Dienun von der Koalition beschlossene Pflegezeit jedoch wird ins Leere laufen. Weder während der6-monatigen Pflegezeit noch während der 10-tägigen Freistellung wird eine Lohnersatzleistung geben.Außerdem ist die Pflegezeit beschränkt auf Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten und auf naheAngehörige. Wir fragen uns: Wer bleibt da eigentlich noch übrig?! So ist die Pflegezeit nicht mehr als einFeigenblatt. Nur Besserverdienende werden in der Lage sein, diese Auszeit im Pflegefall zu nutzen.Letztlich werden es womöglich doch wieder die Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter sein, diewegen der Pflege eines Angehörigen schleichend aus dem Job gedrängt werden oder ihn gleich freiwilligan den Nagel hängen. Das kann es nicht sein.

Auch die Leistungsverbesserungen für Menschen mit "eingeschränkter Alltagskompetenz", z.B.Demenzkranke oder psychisch Behinderte, sind grundsätzlich notwendig und werden bei vielenBetroffenen für Erleichterung sorgen. Dennoch löst dies das eigentliche Problem nicht: DiePflegeversicherung konzentriert sich heutzutage zu sehr auf die körperlichen Defizite vonPflegebedürftigen, ignoriert dabei aber weitgehend die Bedürfnisse und Probleme etwa von Menschenmit Demenz oder psychischen Erkrankungen. Wir brauchen dringend eine Reform des"Pflegebedürftigkeitsbegriffs". Dies ist von elementarer Bedeutung und hat Auswirkungen auf alleweiteren Leistungsentscheidungen in der Pflegeversicherung.

Zwar hat die Bundesregierung einen Experten-Beirat damit beauftragt, Modelle für einen neuenPflegebegriff zu entwickeln. Ergebnisse sollen aber erst Ende 2008 vorgelegt werden. Selbst wenn derZeitplan eingehalten wird, kann man sich an den Fingern abzählen, dass die Reform in dieserWahlperiode nicht mehr kommen wird.

"Petz-Paragraph" bringt Arzt-PatientInnen-Verhältnis in Gefahr

Bereits mit der Gesundheitsreform 2007, dem GKV-WSG, wurde beschlossen, dass VersicherteBehandlungskosten infolge von z.B. Schönheits-OPs, Tätowierungen oder Piercings selbst zuübernehmen haben. Wir haben damals, wie auch in seltener Einhelligkeit alle Fachleute und Verbände,vehement gegen diese beginnende Einführung des "Selbstverschuldensprinzips" in die gesetzlicheKrankenversicherung protestiert. Mit der Pflegereform wurde nun eine Folgeregelung verabschiedet.

Künftig müssen(!) Vertragsärzte den Krankenkassen in den genannten Fällen, bei "vorsätzlichzugezogenen Krankheiten" - hier ist für eine Interpretation Tür und Tor geöffnet - oder beiAnhaltspunkten, dass Versicherte sich eine Krankheit bei einem von ihnen begangenen Verbrechen odervorsätzlichen Vergehen zugezogen haben, die erforderlichen Daten der Versicherten mitteilen. WürdenSie sich zutrauen anstelle der Polizei oder einem Gericht festzustellen, ob jemand vorsätzlich einerechtswidrige Tat begangen hat?

Mit dieser Regelung werden ÄrztInnen zur Brechung ihrer ärztlichen Schweigepflicht verpflichtet. DasVertrauensverhältnis zu Patientinnen wird ausgehöhlt und das Zeugnisverweigerungsrecht von ÄrztInnenim Strafprozess (mittelbar) ausgehebelt. Wir fordern die Koalition weiterhin auf, den Petz-Paragraphenkomplett zu streichen und auch die Einführung des Selbstverschuldensprinzips rückgängig zu machen.Anderenfalls könnte es sein, dass man demnächst Fragen stellt wie: Ist eine/n Diabetiker/in an denKosten der Behandlung zu beteiligen, weil sie/er sich in der Vergangenheit nicht gesund genug ernährthat? Oder was ist mit jemand, die/der einen Suizidversuch mit Tabletten überlebt? Muss auch sie/er fürdie medizinische Behandlung zahlen? Wir sagen: Wehret den Anfängen!

Fazit

Die wenigen guten Entscheidungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass dasPflege-Weiterentwicklungsgesetz seinen Namen nicht verdient. Denn Weiterentwicklung setzt Mut zurVeränderung voraus. Dieser Mut hat die Koalition schon lange verlassen.

Initiativen Änderungsantrag zum Entwurf Pflege-Weiterentwicklungsgesetz Entschließungsantrag Weiterentwicklung Pflegeversicherung Antrag Pflegeversicherung

Beschluss Beschluss Pflege

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